Mutmacher!

Wanderspirale S9
Gronau bis Oppenweiler

Mein Weg zum Bus: Auch heute beobachte ich die zarten Blättchen, die sich mehr und mehr durch meinen Gehweg bohren, tiefe Spalten bildend. Mit den gleichen enormen Kräften aus dem Erdboden, die auch wir – gelegentlich optimal – nutzen! Unermüdlich, ausdauernd! Was für ein Mutmacher!

11-P1210896Das wird heute wohl ein weiterer Gewöhnungsmarsch: Nachdem die neue Prothese vorgestern im Neckartal Kletterei bekam, stelle ich dem LiNX-System heute die Wanderspirale vor. Um uns beide nicht zu überanstrengen, teilte ich gedanklich die geplante Etappe, denn das Klettern wird heute höher hinauf.

Gronau, an der Kante des Schwäbischen Waldes, Ortsteil von Oberstenfeld, ist etwa 22 Kilometer von Stuttgart City entfernt. Über Marbach fahre ich flotte 94 Umweg-Minuten dorthin.

Mein Zutrauen hängt hinterher: Ich denke „das schaffe ich nur bis Allensbach am Weinberg!“ Aber als ich die Höhe erreicht habe stellt es sich anders dar.

Der Anstieg wird Geduld erfordern. Gleich neben der Kirche gehts schon mal hoch. Zwischenrein ist der Weg im Bottwar-Seitental, an der Kurzach entlang, ebener bis hügelig. „Na, Sie sind aber mutig…“ So etwa spricht mich ein älterer Herr an, der fleißig seine Beweglichkeit pflegt, gut gelaunt und fit wirkt. Als ich erfahre, dass er 1921er sei, wird er für mich zum nächsten Mutmacher! Wenn ich in siebeneinhalb Jahren 7000 km geschafft habe – weitere sieben Jahre, da bin ich ja erst 85!

Ab einem kleinen umwachsenen Talsee steigt es kontinuierlich. Der Bach glitzert, die Sonne scheint wohltemperiert, die Stimmung ist hoch angereichert. Es ist Sonntag, immer wieder sind Leute unterwegs. Ich gehe langsam, pfeife tonlose Melodien in mich hinein, den jeweiligen gleichmäßigen Laufrhythmus damit unterstützend. Will ja nicht dauernd stehenbleiben! Das hilft phantastisch für gute Laune, hohe Berge und weite Strecken, und für Ausdauer!

Mit einer Frau komme ich ins Gespräch; ihr geht es wie vielen. Man kann es zuerst kaum glauben, dass man mit Prothese so fern eines Ortes den Berg hinauf steigt oder überhaupt wandert. Auch sie wünscht mir Mut und „Weiter so!“

Bevor ich ganz oben bin, wird es ganz steil. So steil, dass der ursprüngliche Beton des Weges zumeist schon weggespült ist. Noch vorher, nach der Überquerung einer Wasserrinne, finde ich einen Waldbodensockel. Ideale Sitzhöhe, ebener Abstellfläche, für meine breite Auswahl an Verfütterungsmaterial.

Ich bin oben. Über sechs Kilometer waren das bisher. Und dann erlebe ich wieder, wie man sich selbst Mut machen kann. Jetzt, um 13:30 Uhr, bin ich schon zu weit für die gekürzte Planung. Leicht schaffe ich es bis ins ursprüngliche Ziel. Was für ein schöner langer Tag!

Die Hohe Straße. Neben dem Parkplatz eine Hütte. Ich biege um den Eckpfosten, dort sitzen sechs weitere Mutmacher, hier eingeflogen mit Auto und Fahrrad. Ich setze mich dazu. Die üblichen Fragen und Antworten: Warum, woher, wohin. Sie haben sich hier auch erst kennengelernt. Der Mann neben mir: „…und ich wohne in Oppenweiler, ich lad Sie gern ein, wenn Sie nachher kurz vorbeikomme wolle…“ Da ist meine Entscheidung für den längeren Weg wie zementiert.

Mal steil runter, mal wieder nuff, mal langweilig eben, so kurven die Waldwege auf halber Höhe weiter. Der letzte Abstieg ist holprig; ich kenne ihn hautnah, und wie! Doch davon gleich weiter unten im Text.

Wolkenverdickungen verdecken den Blauhimmel. Nahe am Waldrand die wenigen Häuser von Rohrbach. Im Süden scheint der Regen schon am Fallen zu sein. Ja, wirklich, dort, wo Stuttgart liegen müsste, hängen schräge Streifen über dem Land. Punkt 18:00 Uhr erreichen mich Warntropfen. Aber da ist schon das Ortsschild. Und paar Minuten später klingle ich uneingenässt an der beschriebenen Haustüre.

Auf der Veranda während des leichten Regens, im Anblick der Burg Reichenberg, mit Bierchen und Veschper – ein einmaliger Wanderabschluss, bevor ich zum Zug gefahren werde. Und bevor ich zum Dank die Story aus meinen Notizen vorlese, auf der ich 2013 hier am Bahnhof begann und auf dem Abstiegsweg von vorhin im Matsch zwischenlandete…

…Plötzlich rollt der Weg unter meinem Tritt nach oben vorn, das heißt, der linke Schuh gleitet einen halben Meter zurück, und bevor die Prothese das nachmachen kann, drückt sich meine linke Schulter schon tief in den weichen wässrigen Schlamm… Die Beine sind höher als der Kopf… Wie dreht man sich im Schlamm um?… Halb oben, da entsteht ein Wadenkrampf, da gibt es wieder kein Halten, da schlingert es mich hinterrücks nochmal genussverlängernd weiter nach unten… Meine Hände sinken tief hinein, sie fühlen sich an wie die einer Kuchenbäckerin im Teig. Rückwärts sitzend drücke ich mich genüsslich hoch auf…  (Mai 2013)

Inzwischen ist dieser Weg kaum wiederzuerkennen. Gut rekultiviert! Heute zu trocken zum Wiederholen der Situation!

Km heute: 14,3
Km Wanderspirale 2015 gesamt: 108,4
Km Wanderspirale ab 2014 gesamt: 1088,9

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